Forstfelder Geschichte[n]
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Wohnungen für Obdachlose
HNA v. 10.05.69:Wer einmal hier gewohnt hat, findet schwer etwas anderes. Wir haben einen unsichtbaren Stempel bekommen", sagt eine Frau. ,,Wer will uns haben?" Wie schnell kommt nach dieser Verzweiflung die endgültige Resignation?  In den 50er Jahren hatte die Stadt Kassel die Steinbaracken gekauft. Bereits 1953 wurde hier die ersten Obdachlosen-Familie untergebracht, die meisten aber erst Anfang der 60er-Jahre, so 1962 18 und 1963 14 Familien. 1969 wohnten hier 78 Familien mit 561 Personen, die größte Familie bestand aus 15 Personen. Sie waren z. T. aus anderen Lagern „umgesetzt“ worden, so kamen 21 Familien vom Eichwald (Dschungel) und 11 von der Wartekuppe. Man sprach auch nicht von Baracken, sondern von „Schlichtbauten“,  was Rolf Hochhuth  in seiner Komödie thematisierte. Kindergärten besuchten die Kinder der Bewohner nicht, weil kein Kindergarten diese Kinder aufnahm (Läuse, Wanzen, Ausschlag, Bettnässen, Stottern). (Quelle: Bericht der Fürsorgerin Carla Klewes vom 01.02.1969 und Interview am 01.02.2013).  Auf viel zu engem Raum wohnten hier zeitweise bis zu 600 Menschen unter kaum menschenwürdigen Bedingungen. Bereits in diesem Lager gab es ein Haus Forstbachweg – ein Sozialzentrum.  Das war geschaffen worden, nachdem die Gaststätte im alten Casino geschlossen hatte und diese Räume jetzt zur Verfügung standen. Darum wurde der  Name und die Hausnummer bis heute – auch für den Neubau - beibehalten. Die Schule „Am Lindenberg“ hatte ihren Ursprung in Block P. Bis zur Fertigstellung des 1.Bauabschnittes der neuen Schule gingen die Schulanfänger des Forstfeldes und des Lindenbergs (der damals zu Bettenhausen gehörte) in diese Schule und brauchten den weiten Weg nach Bettenhausen zur Eichwaldschule nicht zu gehen.   Die Heinrich-Steul-Schule war 1965 eingeweiht worden. Bernd Rohde war 1967 Referendar an dieser Schule und schrieb in seiner wissenschaftlichen Arbeit über die Familien der Schüler dieser Schule:  "Die Familien der untersuchten Sonderschüler haben eine durchschnittliche Kinderzahl von 7,6, ein durchschnittliches Monatseinkommen pro Person von 160,71 DM und zu 93 % eine Wohnung von 68 Quadratmetern, bei einer durchschnittlichen Bewohnerzahl von 8,7. Einer Person stehen durchschnittlich 7,75 qm zur Verfügung, .78,57 % der Kinder besitzen ein eigenes Bett. 57,58 % der Väter sind am Wohnort geboren, 36,36 % sind zugezogen, 94,2 % der Väter haben keinen Beruf erlernt, 90,91 % arbeiten als Hilfsarbeiter. 39,4 % der Väter trinken übermäßig, 39,4 % sind vorbestraft. . 25 % der Mütter heirateten bis zum 18. Lebensjahr, bis zum 25. Lebensjahr waren bereits 60 % verehelicht. Ebenfalls 25 % der Mütter haben bis zum 18. Lebensjahr mindestens ein Kind geboren, bis zum 25. Lebensjahr waren bereits 60 % verehelicht. Ebenfalls 25 % der Mütter haben bis zum 18. Lebensjahr mindestens ein Kind geboren, bis zum 25. Lebensjahr sind es 75 % der Mütter, die mindestens ein Kind haben. 90,6 % der Mütter haben keinen Beruf erlernt. Die gleiche Anzahl versorgt nur ihren Haushalt, geht also nicht arbeiten.  Nahezu die Hälfte (47,67 %) aller Kinder der untersuchten Familien besuchen die Sonderschule für Lernbehinderte, 21 % die Volksschule und 0 % eine weiterführende Schule.  Die Eltern der untersuchten Kinder sind in der überwiegenden Mehrzahl in den Jahren von 1927 – 1937 geboren…Sie sind während des Krieges groß geworden, hatten keinen geregelten Unterricht, fanden nach dem Krieg zunächst keine Anstellung und heirateten früh, ohne beruflich oder wirtschaftlich dazu die Voraussetzungen zu haben.  Der Kinderreichtum und die räumliche Enge verstärken noch die katastrophale Situation. Die Eltern sind einfach nicht in der Lage, genauso wenig wie sie selbst vorbereitet wurden, ihre Kinder auf den rechten Weg zur Lebensbewältigung zu bringen. Ihnen muß geholfen werden.“ Die hungrigen Kinder von Kassel Weltweit Aufsehen erregte das Barackenlager 1967, als in der Illustrierten „Neue Revue“ am 17. Dezember, also kurz vor Weihnachten ein Bericht über die Untersuchung des Kasseler Gesundheitsamtes erschien: „Kassel hat die bestürzende Wahrheit ermittelt und verschweigt sie nicht: Jedes 2. Kind kommt hungrig in die Lindenberg-Schule. 200 Jungen und Mädchen haben nur zweimal in der Woche ein warmes Mittagessen… Noch 14 TGage bis Weihnachten! Noch 14mal 24 Stunden Zeit, den Kindern von Kassel ein Licht der Liebe anzuzünden...“ Die Medien der DDR nahmen diesen Bericht gerne auf,  von hier kamen Pakete in „Fülle“, so Carla Klewes,  Fürsorgerin für das Lager.  Auch in Kanada wurde der Artikel aufgenommen. Lastwagenweise kamen nun Pakete in die „Schule Am Lindenberg“.  Die Lehrer waren vollkommen überrascht, doch sie schafften es, die Pakete zu ordnen und an die Bedürftigen zu verteilen. Zum Schluss war es aber nur noch möglich, die Pakete von den Lkw aus einfach abzugeben, so Gerd Hallaschka, der an der Schule damals Referendar war. Ab 1968 gab es dann Essen in der Schule, die in eine Ganztagesschule umgewandelt worden war.  Ein zweites Mal fielen die Bewohner auf, als sie sich an der Besetzung der lange leerstehender Wohnungen in der „Belgier-Siedlung“ beteiligten. Hier hatten viele der in Kassel stationierten belgischen NATO-Solddaten gewohnt.  "Aufstand" und Besetzung der Belgiersiedlung „Jede Woche einmal fuhr der Kasseler Maschinenarbeiter Helmut Kleinert seine sieben Kinder im gebrauchten Volkswagen ins Hallenbad, und seine Ehefrau prüfte täglich, "ob die Kleinen nicht schon Läuse haben". Solcher Verdacht lag nicht weit, denn der gelernte Bierbrauer und seine Familie hausten seit drei Jahren in Kassels Obdachlosensiedlung "Lettenlager" -- in einer Zweizimmer-Steinkate, wo Ratten den Fußboden zernagten, fünf Zentimeter dicke Leichtbauwände mürbe, Decken undicht waren und für die neun Familienmitglieder nur ein Waschtrog zur Verfügung stand.“ So stand es im Spiegel Nr. 27 von 1971, nachdem die Bewohner der Baracken der Obdachlosenunterkunft die seit einem Jahr leer stehenden bundeseigenen Häuser der „Belgier-Siedlung“ in Wehlheiden für drei Wochen besetzt hatten. Die Häuser wurden zwangsgeräumt und die Besetzer wieder „zurückgeführt“.  Als Anmerkung sei vermerkt, dass der Bierbrauer seine Kinder nicht zum Vergnügen ins Hallenbad fuhr, sondern hier gab es Badewannen, in denen die Kinder gründlich gewaschen werden konnten.  Der Schriftsteller Rolf Hochhuth verwendete dann dieses Thema für seine Komödie „Die Hebamme“, ein zu der damaligen Zeit in Deutschland viel gespieltes und erfolgreiches Theaterstück. Als es Anfang dieses Jahrhunderts in Berlin noch einmal gespielt wurde, verstand man es nicht mehr - es war ein Misserfolg (da sich viele der Besucher die Hintergründe gar nicht mehr vorstellen konnten).  Bau der Heinrich-Steul-Siedlung Nachdem die Missstände deutschlandweit in den Focus gerückt waren, konnten die Baracken nicht weiter als Unterkunft dienen, die Stadtverordnetenversammlung beschloss 1971 den Abriss und den Neubau moderner Sozialwohnungen für ca. 1000 Menschen, 1973 begannen die Bauarbeiten und 1974 zogen die ersten Mieter ein.  Am 25.05.1972 stand in der HNA:  "Kassels Obdachlose sind an Zahl zwar nicht stärker als in vergleichbaren Großstädten, aber sie haben mehr Publicity als ihre Leidensgenossen überall in der Bundesrepublik: im vergangenen Jahr durch eigene Aktivität mit der Besetzung der Belgiersiedlung, in diesem Jahr unfreiwillig durch das Abfallprodukt dieser Besetzung, Hochhuths "Hebamme".  Gleichzeitig wurden eine neue Kindertagesstätte, das „Haus Forstbachweg“, ein Jugend– und Sozialzentrum gebaut, sowie ein Einkaufszentrum mit Supermarkt, Sparkassenfiliale, Apotheke und Arztpraxen gebaut. zurück weiter In den 60er-Jahren wurden immer mehr Obdachlose in die Baracken am Forstbachweg eingewiesen, die Zeitung war bald voll mit Meldungen von diesem Lager, da einige Bewohner mehr und mehr verwahrlosten. Der folgende HNA-Bericht schildert die Situation treffend:  HNA v. 10.05.1969  „AUCH EINE GEFLICKTE HOSE KANN SAUBER SEIN" Barackenleben hat zwei Seiten Gesundheitsamt ließ Wohnung räumen - Möbel verbrannt Kassel (h). Zwei Lastwagen rollten in die Barackensiedlung, ein voller und ein leerer. Das Dröhnen ihrer Motoren war das Signal für einen Umzug, wie man ihn auch in diesem Kasseler Wohnbereich — am Forstbachweg — nur selten sieht. Kein Wunder, daß im Nu unzählige Menschen auf den schmalen Straßen zwischen den flachen langgestreckten Bauten standen und zuschauten, Männer, Frauen und Kinder, Kinder, Kinder. Das städtische Gesundheitsamt räumte eine Wohnung völlig aus, um alles zu vernichten. Eine Tür weiter wurden derweil saubere Möbel in eine frisch hergerichtete Wohnung geschafft, um die aus ihrer völlig verwüsteten bisherigen Behausung umgesiedelte große Familie aufzunehmen. Mit Atemschutz und Handschuhen drangen die Helfer des Aufräumkommandos in die alte Wohnung ein. Schimpfend räumten die Bewohner das Feld. Scheiben klirrten, durchnäßtes Bettzeug, modrige Matratzen, verwitterte Möbel kamen durchs Fenster. Davor wartete der Lastwagenanhänger. Schmutz und Unordnung Bei einer Besichtigung der Wohnung hatte sich den Verantwortlichen des Gesundheitsamtes ein unbeschreiblicher Anblick geboten. Die Familie — ein rundes Dutzend Kinder gehört dazu — hauste inmitten von Schmutz und Unordnung. Ungeziefer und Krankheiten finden hier beste Lebensbedingungen. Nach allem guten Zureden fiel die Entscheidung: Umsetzung. „Arm sein keine Schande“ Die Räumaktion ist im vollen Gange. Immer noch kommen Neugierige hinzu. Der Einsatz macht wie ein Lauffeuer die Runde durch die dürftigen Behausungen. „Das war höchste Zeit“, sagt eine Frau, und sie fährt fort: „Arm zu sein ist keine Schande, aber sauber kann auch eine geflickte Hose sein." Die Nachbarn sind verbittert. „Immer wenn so etwas hier vorkommt, wird auf alle geschimpft. Solche Zustände werden dann jedem aus dem Lager angekreidet. Das ist ungerecht." Gegensätze In der Tat gibt es hier himmelweite Unterschiede. Da finden sich inmitten des Elends, das nun einmal jeder Barackensiedlung anhaftet, kleine gepflegte Vorgärten, geputzte Fenster mit gewaschenen Gardinen dahinter, zeigen sich bei den Kindern mehrere „Klassen" — hier völlig verwahrloste, dort andere, die zwar keine neuen, aber saubere Sachen tragen.	' Die Kinder.   Hier, wo die Zahl stets Mehrzahl ist, wo der Kindersegen kein Segen mehr zu sein scheint, wo mit dem wachsenden Nachwuchs die Sorgen wachsen, haben sie es besonders schwer. Schlechte Beispiele gibt es rundum. Streit und Zank gedeihen an jeder Straßenecke. Wie oft sehen sie Betrunkene, werden Zeugen handgreiflicher Auseinandersetzungen? „Gestern abend wurde bei uns durch das Fenster geschossen", klagt eine Frau. „Sie können das Loch heute noch sehen." Die einen suchen selbst unter den schlechten Bedingungen des Barackenlagers den Kopf oben zu behalten und nicht in dem Grau von Zank, Streit, Schmutz und Schande unterzugehen; sie haben die Hoffnung auf bessere Tage nicht aufgegeben. Die anderen dagegen wurden mit sich und dieser Umwelt nicht fertig, haben im Alkohol und Nichtstun vermeintliche Lebensinhalte gefunden und kommen nicht mehr davon los. Kinder in sauberer Stube Der Lastwagenanhänger liegt voll Gerümpel und Unrat. Die drei Zimmer sind leer. Nebenan stehen schon die Bettstellen, wird weitere Einrichtung von schwitzenden Möbelpackern hineingeschafft. Heute abend werden die Kinder nach Wochen, ja Monaten wieder einmal in einer sauberen Stube schlafen gehen. Wie lange? „Das geht kein halbes Jahr gut“, sagen die Zuschauer. Irren sie sich? Sie finden es jedenfalls ungerecht, daß sich staatliche Wohlfahrt hier einsetzt. „Da wird ja noch das faule Leben beschenkt“, sagen sie. Ist es richtig, daß Vater Staat zum Helfer wird? „Man muß doch an die Kinder denken!" Ist das ein Argument? „Das können Sie glauben", sagt ein Nachbar. „Ich weiß, daß hier Spenden für die Kinder nicht verbraucht, sondern spottbillig an andere verkauft wurden, um ein paar Mark zu kriegen — für Bier und Zigaretten." Das ist die Kehrseite mancher Hilfsaktion. Soll man sie deshalb unterlassen? Vater Staat kann und darf es deshalb nicht. Oft fehlt die Mutterhand Aus der leeren Wohnung rennen Kinder auf die Gasse zwischen den Hütten. Hellwach sind sie, wieselflink, kaum daß sie laufen können. Sie wissen jeden sich bietenden Vorteil konsequent für sich auszunutzen. Der Konkurrenzkampf schärft den Selbsterhaltungstrieb. Wie oft fehlt ihnen die sorgende Mutterhand? Nimm dir was, dann hast du was! Das ist hier die Devise. Schaff dir was, dann bist du was! könnte Anreiz für die Erwachsenen sein. Doch neben Inseln der Sauberkeit schreit der Dreck. Da liegen Gartenflächen brach. Wieviel Gemüse könnte hier wachsen — für Kinder, die selten richtig satt werden. Doch vor dem Griff nach Hacke und Spaten lockt der Griff zur Flasche. Weg nach draußen ist schwer 75 Familien wohnen in 20 Baracken. 301 Kinder bis 14 Jahre wachsen hier auf, tagtäglich in der Infektion der assozialen Verhältnisse, ja mit der Kriminalität. Es wäre falsch, alle, die hier leben müssen, über einen Kamm zu scheren. Hilfe kann hier nur Starthilfe sein, Anreiz zum eigenen Schritt nach draußen, in geordnete Verhältnisse. Wie schwer dieser Weg ist, davon wissen einige der Bewohner zu berichten. „Wer einmal hier gewohnt hat, findet schwer etwas anderes, Wir haben einen unsichtbaren Stempel bekommen", sagt eine Frau. „Wer will uns haben?" Wie schnell kommt nach dieser Verzweiflung die endgültige Resignation? __ „Slums hat es immer gegeben", sagt ein Mann und wendet sich ab als die letzten Möbeltrümmer aus der Wohnung geschafft werden. „Das, was heute hier passiert ist, schadet uns allen, die wir lieber nicht hier wohnen würden." Der Lastwagen rollt davon, voller alter Möbel. Bald schon werden sie mit Benzin übergossen brennen. Vor der Baracke liegt ein verschimmelter Brotlaib. 1971 im Juni wurden die leer stehenden Häuser der “Belgiersiedlung” von links stehenden Studenten besetzt, die auf die Obdachlosen mehrerer Kasseler Lager Einfluss nahmen, doch diese Wohnungen zu besetzen. Frau Wetzstein (siehe unten) schildert aus der Sicht einer Jugendlichen, wie das vonstatten ging. Nach der Räumung durch die Polizei mussten alle wieder zurück oder bekamen endlich Wohnungen zugewiesen bzw. angeboten. Es hatte sich also gelohnt, “die Kreatur hat sich mit Erfolg gekrümmt”. Endlich klappte vieles, was vorher als unmöglich galt. Die HNA schrieb am 08. Juli 1971:  BALD RÜCKEN MALERKOLONNEN AN Am Forstbachweg gibt es Arbeit Notunterkünfte sollen besser ausgestattet werden Kassel (b). „Sauber ist es jetzt. Aber das andere muß Zug um Zug kommen." So gestern der Leiter des Kasseler Ordnungsamtes, Hugo Merle, der ständig zwischen Belgier-Siedlung und den Obdachlosenunterkünften am Forstbachweg hin- und herpendelte. Ansonsten war es ein Tag wie jeder andere in dieser Siedlung, die auch gestern trotz Großeinsatzes des Reinigungsamtes bereits einen Tag zuvor und trotz strahlenden Sonnenscheins nicht vergessen lassen könnte, daß es sich um eine Obdachlosenunterkunft handelt. Allerdings rückten Glaser, Installateure und Maurer an, um die gröbsten Schäden in den rund 20 leerstehenden Wohnungen zu beseitigen, die gestern zum Teil wieder bezogen wurden - von den Familien, die ihr Heil in der Besetzung von Wohnungen in der Belgier-Siedlung gesucht hatten. Sie mußten zurück in ihre alten Unterkünfte. Am Montag sollen die Malerkolonnen anrücken. Das Versprechen Hugo Merles, daß die Notunterkünfte am Forstbachweg besser ausgestattet werden, soll gehalten werden. Ganz einfach wurde dies den Verantwortlichen der Stadt allerdings nicht gemacht. So gingen rund 80 Fensterscheiben zu Bruch oder waren schon entzwei, als die Familien ihre Unterkünfte räumten. Die Glaser mußten Sonderschichten einlegen, viele Fenster wurden vorsichtshalber ausgehängt, Holzplatten traten an ihre Stelle. Zwei Wohnungen mußten gestern desinfiziert werden. In einer Wohnung fanden sich vier tote Enten. Sie waren ihrem Schicksal überlassen worden, als die Bewohner auszogen. Eine Tür wird eingebaut Der Plan der Stadt, aus drei zwei Wohneinheiten im Forstbachweg zu machen, um mehr Platz für die dort Untergebrachten zu schaffen, ist - so Merle - „in dieser Schnelle nicht zu verwirklichen". Jetzt soll in einigen Wohnungen einfach eine Tür in die Wand zwischen zwei Unterkünften eingebaut werden. Ein weiteres Problem, das dem für die Obdachlosen zuständigen Ordnungsamt Sorge bereitete: in der Belgier-Siedlung waren Familien eingezogen, die nicht als obdachlos bekannt waren. Auch ihnen muß Wohnraum beschafft werden. Obdachlosenunterkünfte besitzt die Stadt zur Zeit noch am Forstbachweg, am Franzgraben, am Frasenweg und an der Wartekuppe. In 30 Gebäuden waren vor der Besetzung der ehemaligen Belgier-Häuser insgesamt 192 Haushaltungen untergebracht. Diese 192 städtischen Unterkünfte sind der Restbestand nach einem zwölfjährigen Barackenbeseitigungsprogramm von ehemals 843 Unterkünften. Außerdem hat die Stadt 242 Wohnungen von der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel gemietet, um von der Obdachlosenfürsorge betreute Familien unterbringen zu können. Insgesamt sind es knapp 440 Familien mit gut 2000 Personen. Um all diesen Familien die Suche nach einer neuen Wohnung zu erleichtern, hat der Magistrat der Stadt Kassel am letzten Montag beschlossen, denjenigen, die eine Wohnung finden, eine Mietausfallgarantie bis zu einem Jahr zu geben. Damit soll es nicht zuletzt auch den Wohnungsbaugesellschaften und den privaten Hauseigentümern leichter gemacht werden, etwa eine kinderreiche Familie aufzunehmen. Das Ordnungsamt hat außerdem die Möglichkeit, auf die Zahlung von Gebührenschulden zunächst einmal zu verzichten, wenn die betroffenen Familien aus der Obdachlosenunterkunft	in eine Wohnung umgezogen sind. 144 Familien, die zunächst in eine Obdachlosenwohnung eingewiesen wurden und denen später eine Wohnung vermittelt wurde, konnten ein Jahr später einen Mietvertrag wie jeder andere unterschreiben. Mit der Obdachlosenfürsorge hatten sie von diesem Zeitpunkt an nichts mehr zu tun. Nach Angaben von Hugo Merle mußte allerdings etwa ein Drittel dieser Familien in den letzten zwei Jahren erneut eine Obdachlosenunterkunft zugewiesen werden. H. Schmidtke Hamburg, B. Rauhen Hause 21, Evangelische Fachhochschule für Sozialpädägogik des Rauhen Hauses, schrieb im Juli 1971 einen Leserbrief:    “Unterlagen wir einer Fehlinformation, die besagt, der Oberbürgermeister von Kassel wollte den Obdachlosen helfen? Doch selbst, wenn dieses Versprechen nicht gegeben wurde, ist es uns unverständlich, wie die Verwaltung im Falle Belgier-Siedlung vorgegangen ist. Wir schämen uns für Sie und Ihre Handlungsweise. Nicht genug damit, daß Ihre Stadt fast nichts für die Obdachlosen tut, Ihr müßt sie auch noch bewußt quälen und in ihr Elend zurückwerfen, gerade dann, wenn sie sich selber helfen wollen. Aber Ihr habt ja recht — was soll man schon mit diesen Asozialen anfangen. Sie gehören in den Dreck, irgendwo am Rande der Stadt, und wenn wirklich einmal ein Vernünftiger dabei sein sollte, der wird sich schon auf dem richtigen Wege zu helfen wissen. Denkt Ihr wirklich so primitiv und dumm? Warum unterstützt Ihr dann nicht die Bemühungen der Obdachlosen und ihrer Helfer, aus ihrer Lage etwas Besseres zu machen? Es paßt eigentlich sehr schön in das Bild unserer Gesellschaft: sowie sich ein Armer, Unterdrückter, Ausgestoßener, oder kurz: Arbeiter, seiner Lage bewußt wird und versucht, aus dieser Lage herauszukommen, treffen ihn die Sanktionen unseres Staates und werfen ihn in seine alte Lage zurück. Es paßt auch so gar nicht in unser „sauberes Wohnstube-Denken" hinein, überhaupt darüber zu reden. (Es drängt sich uns ein Vergleich zum Dritten Reich auf). Macht weiter so und haltet uns . den Staat sauber von solchen Elementen! “ HNA, Sammlung Klewes: Beseitigung der Baracken gebilligt Unterbringung in GWG-Altbauwohnungen - Sozialbauten am Forstbachweg geplant Kassel (nx). Die Bewohner der Baracken am Forstbachweg und Franzgraben sollen in Altbauwohnungen der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel (GWG) untergebracht werden, damit die Baracken abgebrochen werden können. Einstimmig billigten die Stadtverordneten gestern abend mit diesem Beschluß das Barackenbeseitigungsprogramm der Stadt. Auf dem Grundstück am Forstbachweg, das durch den Abriß von Baracken frei wird, sollen dann Sozialwohnungen vor allem für kinderreiche Familien errichtet werden. Das Problem der Obdachlosenunterbringung und Obdachlosenhilfe könne auf Dauer nur bewältigt werden durch eine familiengerechte Unterbringung und durch eine Anpassungshilfe mit sozialfürsorgerischer Betreuung, betonte Stadtrat Heinz Hille bei der Erläuterung des Barackenbeseitigungsprogramms. Er teilte mit, daß zur Zeit 441 Familien mit etwa 2200 Personen von der Obdachlosenfürsorge betreut werden, in sogenannten Barackenunterkünften seien davon nur noch 199 Familien untergebracht. „Vor allem die Unterkünfte im Forstbachweg und am Franzgraben befinden sich in einem zum Bewohnen unwürdigen Zustand", sagte Hille. Die Instandsetzung der alten Baracken sei nach dem Bericht des Stadtrates eine Fehlinvestition, und der Bau von neuen Obdachlosenunterkünften belaste nicht nur den städtischen Etat sehr hoch, er führe auch zu einer erneuten unerwünschten Konzentrierung der Obdachlosen.
1972 wurde dann im Rahmen der Verkündung des Architektenwettbewerbs für die Heinrich-Steul-Str. das Kasseler Barackenbeseitigungsprogramm vorgestellt.
HNA 25.05.1972 (Sammlung Klewes)  PROJEKT FORSTBACHWEG:  Bautermin kam ins Wanken - Unterbringung der Obdachlosen bereitet Schwierigkeiten    Kassel (usn). Am 30. Juni dieses Jahres werde Kassels größte Obdachlosensiedlung, das „Lettenlager" am Forstbachweg geräumt und verschwunden sein. Das wurde noch vor wenigen Monaten, nach der Entscheidung des Architektenwettbewerbes Forstbachweg angekündigt. Doch dieser Plan erwies sich als zu optimistisch. Immer noch wohnen in 22 Baracken etwa 60 Familien. Bis Ende Juni wird erst rund ein Drittel eine neue Unterkunft haben. Dennoch, so versicherte die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel (GWG) jetzt, soll planmäßig noch in diesem Jahr mit dem 30-Millionen-Projekt begonnen werden. In Gesprächen mit Kommunalpolitikern und nicht zuletzt auf dem Parteitag des SPD-Unterbezirks war dagegen zu hören, die Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Obdachlosen würden den Baubeginn bis ins nächste Jahr verzögern. Kassels Obdachlose sind an Zahl zwar nicht stärker als in vergleichbaren Großstädten, aber sie haben mehr Publicity als ihre Leidensgenossen überall in der Bundesrepublik: im vergangenen Jahr durch eigene Aktivität mit der Besetzung der Belgiersiedlung, in diesem Jahr unfreiwillig durch das Abfallprodukt dieser Besetzung, Hochhuths „Hebamme". Neue und bessere Zeiten soll Kassels Behelfsunterkünftlern jedoch das vor gut einem Jahr beschlossene Barackenbeseitigungs-Programm bringen. Dickster Brocken dieses viel gelobten Planes ist der Abbruch des „Lettenlagers" und der Bau von fast 400 Sozialwohnungen an der gleichen Stelle. Die Menschen, die jetzt im „Lettenlager" hausen, sollen zum größten Teil in Altbauwohnungen der GWG einziehen können. Eine Familie mit sechs Menschen ist bereits aus der Baracke in eine Altbauwohnung übergewechselt. Acht weitere sollen bis zum Ende dieses Monats folgen, die nächsten zehn bis zum 30. Juni. „Hierbei ist dafür Sorge getragen, daß jegliche Zentralisierung und erneute Gettobildung vermieden wird", betonte Direktor Peter Habermehl von der GWG. „Gegen Schluß", so glaubt man bei der Stadt und der GWG, „wird die Umsetzung immer schwieriger werden." Doch die Schwierigkeiten sind auch jetzt schon da. Querelen zwischen Sozialarbeitern und Behördenoberen brachten den Bautermin für das Projekt Forstbachweg ins Wanken. „Die wollen am liebsten das Getto erhalten", warf ein Stadtrat den Sozialarbeitern vor. Ungenügende Vorbereitung der Obdachlosen, unzureichende Betreuung in der neuen Umgebung, schlechtere Schulmöglichkeiten befürchten die Sozialarbeiter. Vor einem „Hauruck-System" wurde auch vor wenigen Wochen beim Unterbezirksparteitag der Kasseler SPD gewarnt. „Bei der Umsetzung soll auf die schulischen Belange der Kinder und auf die Arbeitsplätze der Väter Rücksicht genommen werden", versprach jetzt Bürgermeister Georg Wündisch als Sozialdezernent. So werden gerade Familien mit schulpflichtigen Kindern Wohnungen in der Nähe des Forstbachweges angeboten, damit für die Kinder weiter die Möglichkeit der Ganztagsschule, der Aufgabenhilfe und der besonderen Betreuung besteht. Noch Sozialarbeiter gesucht Für die Betreuung der Familien nach der Umsetzung werden, wie Wündisch erläuterte, „krampfhaft noch Sozialarbeiter gesucht". Es soll eine Sondergruppe für diese Aufgabe eingesetzt werden, doch noch scheitert das am Personalproblem. Ziel der Stadt: „Wir hoffen, 90 Prozent der Obdachlosen wieder eingliedern zu können." Das heißt, normale Wohngegenden und normale Mietverträge. Doch die nächste Schwierigkeit steht bevor: die neuen Nachbarn. Besorgt sprach ein Polizeibeamter und Gewerkschaftsfunktionär für die Bewohner einer Wohnsiedlung im Norden der Stadt: „Hier wird die Demokratisierung .auf die Spitze getrieben." Bedenken äußerte er gegen die „Einschleusung von zum Teil kinderreichen Familien" in ein Gebiet, in dem man es versäumt habe, „vorher irgendwelche Kinderspielplätze in noch erreichbarer Nähe zu schaffen". Mit Tränen in den Augen seien die alten Bewohner zu ihm gekommen und hätten über die Lärmbelästigung geklagt, berichtete der Besamte. Bisher habe man die Wohnsiedlung weitgehend sauber gehalten, doch mit den Umsetzungen bestrafe man die Mieter, die bereits seit Jahrzehnten in dieser Siedlung wohnten. Räumung geschieht nach und nach „Im Zusammenwirken mit dem Magistrat der Stadt Kassel wird durch unsere Gesellschaft gegenwärtig das Lager nach und nach von Obdachlosenfamilien geräumt", teilte GWG-Direktor Habermehl mit und meinte: „An sich ist es kein unlösbares Problem, 60 Familien unterzubringen." Doch bevor die Baracken verschwunden sind und die bis zu achtgeschossigen neuen Häuser am Forstbachweg stehen (geplant ist als Abschlußtermin 1975), werde noch einige Zeit und einiger Ärger vergehen. Das Barackenbeseitigungsprogramm ist kein Allheilmittel gegen die Obdachlosigkeit. Viele Bewohner des „Lettenlagers" werden wieder in Notunterkünften landen. In alten oder sogar in neuen. HNA v. 09.10.1973 Inhaltsverzeichnis
Ein “offizielles Jubiläumsprojekt 2013” von “Kassel 1100” im Rahmen “Kultur im Kasseler Osten”
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