Forstfelder Geschichte im Web von Falk Urlen
Betroffene und Zeitzeugen berichten
Im Juni 2009 bekam ich Besuch von einer Dame aus Australien, die in Deutschland als erstes
den Weg zu diesem Lager suchte, welches aber nicht mehr zu finden war. Im Computer
suchten wir dann die entsprechenden Bilder. Ilse war 1945 geboren, bewohnte von 1946 bis
1949 dieses „Junkers-Camp“ und ging hier in den Kindergarten. Erinnerungen daran hatte sie
aber leider keine mehr und wenn sie früher ihre Mutter fragte, endete dieses Gespräch nur in
Tränen, so dass sie es dann ließ. Ihre Freundin fotografierte sie am letzten Überrest des
Lagers, dem alten Torpfosten. Sie bedankte sich und mailte mir aus Australien die Bilder und
meinte, dass sie diesen Tag in Forstfeld ihr ganzes Leben lang nicht vergessen würde.
Aufgrund meiner Intervention bei der Unteren Denkmalschutzbehörde, schreibt diese am
24.11.2009:
"Nachdem wir die Information des Stadtarchivs erhalten haben ..., wurde vom Landesamt für
Denkmalpflege Hessen, das für die Erfassung von Denkmälern zuständig ist, der verbliebene
Torpfosten als Kulturdenkmal aus geschichtlichen Gründen eingestuft. Damit sind die
rechtlichen Voraussetzungen für den Erhalt geben." Der Ortsbeirat Forstfeld beschloss
daraufhin, mit einer Gedenktafel an diese Lager in Forstfeld hinzuweisen.
Entlassungsschein von Ilse Neicinieks von 1949
Ilse Neicinieks (Mitte) mit ihrer Mutter
(links) und den Kindergärtnerinnen im
Kindergarten des „Lettenlagers“ 1948/49
Vom Obdachlosen zum Hausmeister im Haus Forstbachweg
Meine Zeit als Sozialarbeiter für Jugendliche im
„Lettenlager“
von Volkhardt Strutwolf
Ich habe mit meiner Arbeit 1968 im Obdachlosenlager in Forstfeld begonnen. Für
mich war das eine ganz andere Welt. Ich kam aus einer dörflichen, kleinbürgerlichen
Sozialisation und konnte mir, nachdem ich das gesehen hatte, nicht vorstellen, dass
Menschen mit so vielen Kindern auf so kleinem extrem beengten Raum überhaupt
leben konnten. Der Großteil des Lebens spielte sich außerhalb der Wohnung ab, aber
hier war alles verwahrlost, es gab keine Mülleimer vor der Tür, sondern nur ein paar
große Müllcontainer. Die Menschen, bei denen das Wertesystem noch funktionierte,
hatten ordentliche Wohnungen, aber nicht alle schafften das.
Nach dem damaligen Jugendwohlfahrtgesetz mussten Kinder, bei denen
Verwahrlosungstendenzen festgestellt wurden, in Heimen untergebracht werden; das wäre dann für die Hälfte aller
Lagerkinder zum Zuge gekommen, bei dieser Größenordnung aber konnte sich das kein Staat leisten. Ich lernte
daraus, dass diesem Problem nur beizukommen war, wenn man strukturell etwas änderte, also die Wohnbedingungen,
die Infrastruktur, die Gesundheitsfürsorge und die Bildung.
Der erste Schritt war über die Forstfelder Schulen schon gemacht worden. Ich habe hier eine Vielzahl von
Lehrerinnen und Lehrern kennen gelernt, die sich in hohem Maße um die Kinder bemüht haben. Die Schulen
versorgten die Kinder mittags, hatten Turnhallen, in einem Umkreis von 500 x 500 m gab es zwei Schulen, drei
Kindertagesstätten, das Haus Forstbachweg mit Sitz der sozialen Dienste und der Freizeiteinrichtungen durch die
Stadtjugendpflege. Die Stadt hat also schon sehr viel getan, aber das Problem mit dem Grundbedürfnis „Wohnung“
war noch lange nicht gelöst.
Der Beseitigung der Barackensiedlungen, es gab ja noch zwei, eine auf der Wartekuppe und eine am Frasenweg,
wurde durch die „Besetzung“ der „Belgiersiedlung“ erheblich beflügelt. Wir Sozialarbeiter hatten große Sympathien
für diese Aktionen, zu denen wir auch offen standen. Jetzt wurden die Bemühungen für das
Barackenbeseitungsprogramm durch die Stadt verstärkt, man musste diese Schandflecke einfach beseitigen. Zunächst
wurden Wohnungen zusammengelegt und an den Wohnungen die größten Schäden beseitigt.
Die Bevölkerung stand nicht unbedingt dahinter, hier kamen dann alle Vorurteile gegenüber diesen Obdachlosen
zusammen: kinderreich, arbeitsscheu, kriminell. Wir Sozialarbeiter machten große Anstrengungen, wir haben z. B.
alle Jugendlichen, die zu uns in das Jugendzentrum kamen, in Arbeitsverhältnisse untergebracht.
Eine große Hilfe war später auch der Hausmeister Helmut Kleinert, die Wissenschaftler nennen das Sozialwelt- oder
Lebensweltorientierung, er wusste, wovon er redete, ohne die wissenschaftlichen Begriffe dafür zu kennen, er
wusste, wo die Menschen der Schuh drückte, mit ihm musste man nicht über Prioritäten sprechen, er wusste das
alles. Er war bei Jugendlichen und auch Erwachsenen anerkannt, selbst wir Sozialarbeiter suchten manchmal seinen
Rat. Er beließ es nicht nur bei der Beschreibung der Missstände, er setzte sich auch gleich immer dafür ein, dass
diese beseitigt wurden, er war schon mehr als nur „Hausmeister“. Ihm gebührt eine große Ehre.
Die Geschichte des Haus Forstbachweg begann, als sich diese Institution noch im ehemaligen Wirtschaftsgebäude
des Lagers befand. Hier waren bereits Jugendliche bei der Renovierung und der Schaffung von Freizeitanlagen mit
einbezogen worden und es gab bereits ein breit gefächertes Angebot für Kinder, eine Malschule und viel
Betreuungsangebote durch die AWO, es gab die ersten Versuche der Medienpädagogik für randständige Kinder,
Super-8 Filme wurden produziert und auch im Fernsehen ausgestrahlt. Es war eine lebendige, vielfältige, kulturelle
Atmosphäre. Auch Erwachsene nahmen an Veranstaltungen teil. Diese Erfahrungen wurden dann im neuen Gebäude
weiterverfolgt. Durch das Engagement des Stadtteils konnten später im Keller Räume für Vereine geschaffen werden,
durch die das kulturelle Leben in Forstfeld einen neuen Schwung bekam.
Schließlich wurden im Rahmen des Barackenbeseitigungsprogramms in mehreren Bauabschnitten die Häuser mit
400 Wohnungen für 1000 Menschen in der Heinrich-Steul-Str. in mehreren Abschnitten gebaut. Ich erinnere mich
noch, wie die rumänischen Bauarbeiter, die den ersten Abschnitt erstellten, abends zu uns in Jugendveranstaltungen
kamen und sich hier noch richtig wohl fühlten, wir organisierten so auch „internationale“ Fußballspiele.
Von den ehemaligen Barackenbewohnern zog nur ein Bruchteil in diese neuen Wohnungen ein, einige bekamen
Wohnungen in der Städtischen Siedlung, andere bekamen Wohnungen in anderen Stadtteilen. Heute ist die Siedlung
in der Heinrich-Steul-Str. eine Siedlung im Grünen mit komfortablen, bezahlbaren Wohnungen.
Hören Sie hier Ausschnitte
aus dem Interview
Ein “offizielles Jubiläumsprojekt 2013” von
“Kassel 1100” im Rahmen “Kultur im Kasseler Osten”
Ein Internet-Buch zum Mitmachen